Paul Boghossian hat ein auch ins Deutsche – übrigens bemerkenswert schlecht – übersetztes Buch „Angst vor der Wahrheit“ zur Widerlegung des epistemischen Relativismus geschrieben, das einen interessanten Einstieg in die Diskussion um den Sozialkonstruktivismus bietet. Dieser post referiert die wichtigsten Überlegungen daraus. Stellenweise ist der Artikel jedoch sehr viel mehr eine rationale Rekonstruktion des Gedankengangs im Buch als eine Synopsis. Für etwaige Fehler bin daher nur ich allein verantwortlich.
I. Einleitung
Sozialer Konstruktivismus ist eine in den 1980igern enstandene, soziologische und anti-essentialistische Theorie, die darauf hinaus läuft, daß die Realität erzeugt wird, indem Wissen von ihr und Bedeutung in ihr durch koordiniertes Verhalten von gesellschaftlich eingebundenen Individuen hergestellt werden. In dieser Form ist sozialer Konstruktivismus noch wenig unverständlich und muß erst präzisiert werden, damit man ihn diskutieren und widerlegen kann.
- Von philosophischer Seite her ist Richard Rorty von besonderem Einfluß für den o.g. Konstruktivismus gewesen und es ist nicht übertrieben, zu sagen, daß der Postmodernismus ohne Rortys epistemischen Relativismus nicht hätte entstehen können. Analytische Philosophen lehnen Postmodernismus traditionell ab, was im amerikanischen Raum zu den sog. science wars mit den anderen Sozialwissenschaften geführt hat. Unter anderen die bekannte Sokal-Affaire hat versucht, den Postmodernismus öffentlich lächerlich zu machen.
Die erste Präzisierung können wir vornehmen, indem wir die zentralen Intuitionen des sozialen Konstruktivismus ausschreiben:
- a) Individuen rationalisieren ihre Erfahrungen durch freiwillige Entscheidungen und Auswahlen, wodurch sie nicht mehr als ein Modell der sozialen Realität erzeugen.
- b) Sprache ist das wesentliche Werkzeug dieser Wirklichkeitskonstruktion, da sie – neben anderen Faktoren – diese Entscheidungen dominiert.
- c) Soziale Konstruktionen bestehen nur dadurch, daß sie kontinuierlich bestätigt werden – was andererseits auch die Möglichkeit ihrer Veränderung beinhaltet.
In dieser Version wird erst mal nur festgelegt, daß Erfahrungen, deren Inhalt nur in Sätzen ausgedrückt werden kann, die zentrale Rolle spielen. Aus diesem Grund impliziert der soziale Konstruktivismus einen epistemischen Relativismus.
- Epistemischer Relativismus ist dadurch charakterisiert, daß er einen Objektivitätsanspruch jeglichen Wissens und insbesondere wissenschaftlicher Erkenntnis ablehnt. Unter Wissen wollen wir zunächst mal wahre, begründete Meinungen verstehen, deren Belege in den meisten Fällen Erfahrungen sind. Wissen wird auf diese Weise abhängig von Personen, Kontexten oder Perspektiven.
Denn für verschiedene Erfahrungen gilt die konstruktivistische Anfangsintuition, die sog. Gleichwertigkeitsdoktrin:
- (1) Es gibt verschiedene Weisen, die Welt zu verstehen, indem man Erfahrungen macht, und alle konkurrierenden Aussagen über die Welt sind nicht entweder wahr oder falsch, sondern sie sind nicht wahrheitsfähig und haben daher dengleichen Wert. Kontextfreie und überkulturelle Normen der Rationalität gibt es ebenfalls nicht und zwar so wenig, daß nicht mal zwei beliebig vorgegebene Meinungen unterschieden werden können im Hinblick auf die Frage, ob sie die Welt adäquat widerspiegeln oder erklären.
Diese Anfangsintuition wird z.B. von Kreationisten und Feministen benutzt, die kontextfreie und überkulturelle Normen der Rationalität ablehnen.
- Es scheint daher einen Konflikt zu geben zwischen einer wissenschaftlichen Verpflichtung und einer Wertschätzung für eine Person oder eine Kultur, die eine Ansicht vorträgt. De facto ist die Wissenschaft – aus welchen Gründen auch immer – privilegiert. Denn wäre sie es nicht, dann müßten wir die Archäologie für genauso glaubwürdig halten, wie den Kreationismus der Lakota-Indianer, die meinen, von Büffelleuten abzustammen, die aus dem Inneren der Erde kamen oder den christlichen Kreationismus. Viele Sozialwissenschaftler stimmen der Folgerung daraus zu, daß wir die fundamentalen Prinzipien, nach denen die Gesellschaft organisiert ist, völlig mißverstanden haben und nicht selten wird das von den Naturwissenschaften als unseriös kritisiert.
Ideologisch hängt die Anziehungskraft der Gleichwertigkeitsdoktrin in (1) mit dem Beginn der postkolonialen Ära zusammen, weil die Kolonialmächte ihre Aktivität mit ihrer überlegenen Wissenschaft und Kultur rechtfertigten: In einem Klima, daß den Kolonialismus für moralisch falsch hält, ist die These faszinierend, daß man die Unterwerfung eines Volkes nicht im Namen der Wissensverbreitung oder Aufklärung moralisch rechtfertigen kann – einfach deshalb weil es gar kein überlegenes Wissen gibt, sondern nur verschiedene Varianten von Wissen, die alle jeweils zu demjenigen Umfeld passen, in dem es ursprünglich angetroffen wird.
Anmerkung von mir (nicht von Boghossian): Der Postkolonialismus liefert eine von vier möglichen Begründungen des Mulitkulturalismus.
- Multikulturalismus geht von einem Kulturrelativismus aus und behauptet, daß es einen kulturbedingten Konflikt zwischen dem moralisch richtigen Gleichheitsgebot der Personen untereinander und ihren individuellen Freiheitsrechten gäbe, der so zu lösen sei, daß „Gleichheit“ immer ‚gleiche Freiheit‘ meine. Da der grundsätzlich zum Paternalismus verpflichtete Staat nicht kulturell neutral handeln könne, müsse er sich durch spezielle Gruppenrechte und echte Privilegierungen von Gruppen an der Schaffung einer bestimmten Metakultur beteiligen, welche den Zugang der verschiedenen Gruppen, die auf seinem Staatsgebiet leben, zu ihrer eigenen Kultur oder Religion erleichtern. Jeglicher staatliche Homogenisierungsdruck auf eine Gesellschaft sei inakzeptabel.
Es ist klar, daß der Sozialkonstruktivismus den Kulturrelativismus impliziert. Wer Sozialkonstruktivist ist muß kein Multikulturalist sein. Aber jeder Multikulturalist ist Sozialkonstruktivist, denn er lehnt jede lokale Leitkultur ab.
II. Was bedeutet soziale Konstruktion?
Im Ergebnis hat sich in den Sozialwissenschaften und in der Psychologie in den letzten 20 Jahren die Kernidee einer zur Postmoderne gehörenden Erkenntniskonzeption durchgesetzt:
- (2) Erkennen ist keine neutrale, transparente Reflexion einer unabhängig existierenden Realität, in der Wahrheit und Falschheit durch transparente Verfahren rationaler Prüfung etabliert werden, sondern nur noch situiertes Erkennen, daß die Perspektive des Erkenntnissubjektes in einem historischen Moment in einem gegebenen materiellen und kulturellen Kontext wiederspiegelt. Hier wird behauptet, daß die Frage, welche Meinung auch Wissen ist, irgendwie und zumindest teilweise von der Gesellschaft abhängt, und nicht mehr von den Tatsachen oder einer Art unabhängiger Realität bestimmt wird.
Diese Gesellschaftsabhängigkeit jeden Wissens, welche offenbar nach (1) als moralischem Korrektiv ruft, nennt man soziale Konstruktion oder sozialkonstruktivistische Erkenntniskonzeption.
- Das bedeutet, daß die sozialkonstruktivistische Erkenntniskonzeption eine, aber nicht notwendigerweise die einzige Möglichkeit darstellt, den epistemischen Relativismus zu realisieren und auszubuchstabieren.
Im Vergleich dazu bestehen die wesentlichen Merkmale der Objektivität von Tatsachen in ihrer Universalität und ihrer Bewußtseinsunabhängigkeit. Es liegt unter diesen Umständen auf der Hand, daß von diesem Standpunkt aus auf einmal rätselhaft wird, wie Wissen von Tatsachen überhaupt möglich sein kann. Wir haben damit folgendes Schema:
Es scheint innerhalb des Konstruktivismus drei mögliche Versionen einer sozialkonstruktivistischen Erkenntniskonzeption zu geben:
- Wahrheitskonstruktivismus (oder auch: Tatsachenkonstruktivismus),
- Begründungskonstruktivismus
- Erklärungskonstruktivismus, i.e. eine Abhängigkeit der Erklärung unserer Meinungen von sozialen Faktoren.
Diskutiert man diese Versionen einer sozialkonstruktivistische Erkenntniskonzeption, so muß man dabei folgende Tatsachen über Meinungen im Kopf behalten:
- Jede Meinung muß einen in ganzen Sätzen ausdrückbaren semantischen Gehalt haben, der spezifiziert, wie die Welt – verstanden als Menge von Sachverhalten – dieser Meinung zufolge beschaffen sein muß. Und jede Meinung muß für wahr oder falsch gehalten werden. Daher spezifiziert jede Meinung mindestens eine Wahrheitsbedingung. Ferner kann jede Meinung als berechtigt, unberechtigt, rational oder irrational beurteilt werden.
- Man kann nicht einfach jede Meinung haben, die man haben will, insbesondere kann man keine Meinung haben, die man selbst für falsch hält.
- Für die auf Wahrheit bezogene Begründung einer Meinung kommen nur epistemische Gründe, i.e. eine Überlegung oder eine Beobachtung in Frage und man kann aus guten Gründen etwas Falsches glauben. Solche Gründe nennen wir fallibel und anfechtbar.
- Für die Rationalität einer Meinung kommen auch nicht-epistemische z.B. pragmatische oder moralische Gründe in Frage wie z.B. die Furcht vor der Hölle ein pragmatischer Grund ist, an Gott zu glauben. Offenbar hängt diese Möglichkeit nicht vom Inhalt einer Meinung, sondern vom Kontext ab, in dem diese Meinung gehegt wird: Pragmatische oder moralische Gründe dafür anzugeben, die Anzahl der Jupitermode für größer als 49 zu halten, gelingt vermutlich nur in einem exotischen Sci-Fi-Szenario.
Damit kann die Frage nach der sozialen Konstruktion von Wissen im nächsten Präzisierungsschritt auch so formulieren:
- Gibt es neben den epistemischen Gründen für eine Meinung auch nicht-epistemische oder können diese immer fehlen?
- Kommt die Rationalität einer Meinung immer ohne nicht-epistemische Gründe aus?
Sozial konstruiert kann in unserer Welt zunächst mal offenbar alles mögliche sein: Emotionen, Bruderschaft, Schulerziehung, der Fernsehkonsument, Nationalismus – was konstruiert ist, wird nicht gefunden oder entdeckt, sondern von einer Gesellschaft oder Gruppe zu irgendeinem praktischen Zweck postuliert und ausgedacht.
- (3) Sozial heißt eine Konstruktion von Wissen demnach deshalb, weil sie durch eine Gesellschaft vorgenommen wird, die primär Bedürfnissen, Interessen und Werte haben und diesen auch folgen, wenn die Meinungen zu Wissen erklären.
Ein postmoderner Sozialkonstruktivist ändert dieses Vorverständnis zusätzlich in folgender Hinsicht ab:
- (4) Interessant ist nur diejenige soziale Konstruktion von Tatsachen, nicht die von Ereignissen oder Dingen. Insbesondere folgt daraus, daß mindesstens eine Tatsache sozial konstruiert ist, nicht, daß alle Tatsachen soziale konstruiert sein müssen. Ein Sozialkonstruktivist kann also durch aus zugeben, daß es eine von Menschen unabhängige, physikalische Realität gibt, in der es Dinge wie Elektronen oder Stühle gibt und Ereignisse wie Sonnenuntergänge und Autounfälle passieren.
- (5) Es geht im Sozialkonstruktivismus immer nur um solche kontingenten Tatsachen, die nicht anders als durch soziale Konstruktion entstehen konnten, i.e. deren Konstruktion muß für die Tatsache konstitutiv sein wie z.B. Geld. Denn ein Stück Papier wird zu Geld genau dann, wenn es von Menschen in einer bestimmen Weise gebraucht wird.
- (6) Die betreffenden und allein interessierenden, kontingenten Tatsachen spiegeln die Interessen und Bedürfnisse der Konstruierenden wieder derart, daß ohne sie diese kontingenten Tatsachen nicht konstruiert worden wären. Machtinteressen wäre hier ein Beispiel.
Mit anderen Worten: Eine Tatsache ist sozial konstruiert genau dann, wenn es notwendig i.e. in allen möglichen Welten wahr ist, daß sie ihr Bestehen allein den kontingenten Handlungen einer sozialen Gruppe gemäß ihren Wünschen oder Bedürfnissen verdankt.
- Eine sozial konstruierte Tatsache manifestiert daher immer auch den Umstand, daß sie mit einer Veränderung dieser Wünsche oder Bedürfnisse auch auf andere Weise oder als eine andere Tatsache hätte entstehen können: Sozialkonstruktivisten glauben, daß wir immer eine Wahl in Bezug auf die genannten Tatsachen haben.
Sozialkonstruktivismus in Bezug auf z.B. Geld ist mehr oder weniger nicht der Rede Wert, denn niemand würde ihn bestreiten. Sehr viel interessanter wird es aber, wenn er sich gegen eine geschlechtsspezifische Disposition des Verhaltens richtet – was der Grund dafür ist, daß er für Feministen so attraktiv ist, denn mit allem, was sozial konstruiert ist, müssen wir offenbar nicht leben. Doch daraus folgt noch keineswegs, daß Anti-Biologismus notwendige Bedingung jedes Feminismus ist.
- Es wäre jedoch ein Mißverständnis, zu glauben, daß die Aufdeckung sozial konstruierter Tatsachen immer potentiell befreiend, wäre, insofern man mit natürlichen Tatsachen leben müsse. Denn erstens kann man auch viele natürliche Tatsachen ändern und zweitens kann nicht alle sozial konstruierten Tatsachen aufheben: Die Tatsache, daß es einmal Geld gab, wird natürlich niemals durch die Abschaffung von Geld verschwinden.
Damit steht der Sozialkonstruktivismus in Opposition zum traditionellen Bild der seit Aristoteles gepflegten Vorstellung von Erkennntnis bzw. von Wissen:
- (7) Tatsachenobjektivismus: Die externe Welt, die wir verstehen und erkennen wollen, ist so, wie sie ist, von uns und unseren Meinungen über sie durchaus unabhängig. Das gilt für einige, aber nicht für alle und auch nicht für einen bestimmten Katalog von Tatsachen. Die Existenz denkender Wesen fügt der objektiven Welt keine weiteren Eigenschaften hinzu.
- (8) Begründungsobjektivismus: Tatsachen der Form: „Information B berechtigt und zur Meinung M.“ sind gesellschaftsunabhängige Tatsachen. Insbesondere hängt es nicht von den Interessen einer Person oder einer Gesellschaft ab, ob B zu M rationalerweise berechtigt oder nicht.
- (9) Objektivismus mit Bezug auf rationale Erklärungen: Unter den richtigen Umständen ist unsere Konfrontation mit entsprechenden Belegen bzw. epistemischen Belgen ausreichend, um zu erklären, warum wir meinen, was wir meinen.
Die Varianten des Erkenntniskonstruktivismus der Postmoderne lauten hingegen:
- (10) Tatsachenkonstruktivismus: Die externe Welt, die wir verstehen und erkennen wollen, ist so, wie sie ist, nicht von uns und unseren Meinungen über sie komplett unabhängig. Alle kontingenten Tatsachen sind sozial konstruiert derart, daß sich darin unsere Wünsche, Interessen und Bedürfnisse widerspiegeln. Für alle kontingenten Tatsachen gilt notwendigerweise, daß sie nur bestehen, weil Menschen sie so konstruiert haben.
- (11) Begründungskonstruktivismus: Tatsachen der Form: “Information B berechtigt und zur Meinung M.“ sind nicht gesellschaftsunabhängige Tatsachen. Insbesondere hängt es vom Kontext, den Interessen einer Person oder einer Gesellschaft ab, ob B zu M berechtigt.
- (12) Erklärungskonstruktivismus: Es ist nie möglich, unsere Meinungen allein auf der Basis unserer Konfrontation mit entsprechenden Belegen zu erklären, auch unsere kontingenten Bedürfnisse und Interessen müssen dafür angeführt werden. Epistemische Gründe reichen dafür nicht aus, pragmatische Gründe wie kontingente Bedürfnisse oder Interessen sind unvermeidlich.
Die Intuition dahinter liegt auf der Hand: Wenn die Konfrontation mit Belegen niemals ausreicht, um zu erklären, warum wir eine bestimmte Meinung für zwingend halten, dann kann kaum von uns verlangt werden, daß etwas allein auf Grundlage dieser Belege für wahr zu halten.
… und auf halber Strecke für den besseren Überblick ein Fazit von mir:
Womit man es beim Problem sozialer Konstruktion wirklich zu tun hat, kann nach dem bisher Gesagten so zusammengefaßt werden:
(A) Wissen ist in erster Näherung wahre gerechtfertigte Meinung. Auch falsche Meinungen können rational sein.
(B) Meinungen beruhen auf Belegen und diese bestehen in Erfahrungen, deren Inhalt nur in Sätzen ausgedrückt werden kann. Für solche personengebundenen Erfahrungen gilt aber die Gleichwertigkeitsdoktrin.
(C) Die Rede von Tatsachen kann zweierlei Hinsicht verstanden werden: Erstens kann eine Tatsache ein bewußtseinsunabhängig und universell bestehender Sachverhalt der externen Welt sein. Zweitens kann die Rede von Tatsachen als Rede von wahren Meinungen über Sachverhalte verstanden werden.
(D) Sozial heißt eine Konstruktion von Wissen über Tatsachen deshalb, weil sie durch eine Gesellschaft vorgenommen wird, die primär Bedürfnissen, Interessen und Werte hat und diesen auch folgt, wenn sie gewisse Meinungen zu Wissen erklärt.
(E) Eine Tatsache ist sozial konstruiert genau dann, wenn es notwendig i.e. in allen möglichen Welten wahr ist, daß sie ihr Bestehen allein den kontingenten Handlungen einer sozialen Gruppe gemäß ihren Wünschen, Interessen oder Bedürfnissen verdankt. Mit sozial konstruierten Tatsachen müssen wir nicht leben, wir haben sie Wahl. Jede sozial konstruierte Tatsache ist daher kontingent.
(F) Es geht im Sozialkonstruktivismus immer nur um solche kontingenten Tatsachen, die nicht anders als durch soziale Konstruktion entstehen konnten, i.e. deren Konstruktion für diese Tatsachen konstitutiv ist und die wir daher im Prinzip auch nicht entstehen lassen könnten, wenn wir das nur wollten.
Damit hat Boghossian sein Thema präzisiert und seine nachfolgende – in den nächsten posts nachvollzogene – Untersuchung nimmt folgenden Verlauf an:
Soziale Bedingtheit von Beschreibungen bei Tatsachen:
- Welches Schema der sprachlichen Weltbeschreibung wir übernehmen, hängt davon ab, welches Schema wir für aktuell nützlich halten. Und welches Schema wir zu übernehmen für nützlich halten, hängt von unseren kontingenten Bedürfnissen und gelegentlich sogar von unseren Interessen als soziale Wesen ab. Doch das allein entscheidet nicht darüber, welche dieser Beschreibungen wahr oder falsch sind.
Nicht-relativer Tatsachenkonstruktivismus:
- Tatsachenkonstruktivismus besagt, daß wir das Vorliegen jeder einzelnen kontingenten Tatsachen über die Welt nur verstehen können, nachdem wir uns darauf verständigt haben, einige Weltbeschreibungen anderen vorzuziehen. Zweitens besagt er, daß die Annahme, daß es Tatsachen als Merkmal der Welt geben könnte, die einige dieser Beschreibungen vor anderen Sachverhaltsbeschreibungen auszeichnen, eine Vorstellung ist, die vor dem Gebrauch dieser Beschreibungen keinerlei Sinn hat.
Relativer, globaler Tatsachenkonstruktivismus:
- Für alle kontingenten Tatsachen gilt: Wenn es gemäß der Theorie T1 der Person A wahr ist, daß P, dann steht das nicht im Widerspruch dazu, daß es gemäß der Theorie T2 von B wahr ist, daß nicht-P. Dabei steht P für eine Aussage.
Relativer, lokaler Tatsachenkonstruktivismus:
- Für einige, aber nicht alle kontingenten Tatsachen gilt: Wenn es gemäß der Theorie T1 der Person A wahr ist, daß P, dann steht das nicht im Widerspruch dazu, daß es gemäß der Theorie T2 von B wahr ist, daß nicht-P. Dabei steht P für eine Aussage. Es gibt aber einige, universelle und kontingente Tatsachen.
Begründungskonstruktivismus:
- a) Es gibt keine universellen Tatsachen darüber, welche Information zu einer bestimmen Meinung berechtigt. (auch: epistemischer Nicht-Absolutismus)
- b) Wenn die epistemischen Urteile einer Person A irgendeine Aussicht auf Wahrheit haben sollen, dann dürfen wir Äußerungen der Form „x berechtigt zur Meinung M.“ nicht als Ausdruck der Behauptung „x berechtigt zur Meinung M.“ verstehen, sondern als Ausdruck der Behauptung „Gemäß dem epistemischen System S, daß ich, A, befürworte, berechtigt x zur Meinung M.“ (auch: epistemischer Relationismus)
- c) Es gibt viele grundlegend verschiedene, disjunkte epistemische Systeme, aber keine universellen Tatsachen, die eines von ihnen als wahrer, adäquater oder korrekter auszeichnen würden. (auch: epistemischer Pluralismus)
Starker Erklärungskonstruktivismus:
- Es ist unter keinen, noch so günstigen Umständen auch nur teilweise möglich, unsere Meinungen allein auf der Basis unserer Konfrontation mit einschlägigen Belegen, i.e. epistemischen Gründen zu erklären. Unsere kontingenten Bedürfnisse und Interessen müssen immer dafür angeführt werden.
Schwacher Erklärungskonstruktivismus:
- Unsere epistemischen Gründe für unsere Meinungen liefern lediglich eine Teilerklärung des Erwerbs unserer Meinungen. Auch unsere kontingenten Bedürfnisse und Interessen müssen angeführt werden, um die unvermeidlichen Lücken zu füllen.
Der Artikel wird fortgesetzt: Die folgenden drei posts spielen Boghossians Diskussion um die Varianten des epistemischen Relativismus durch.
Links zum Thema:
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[…] Meinungen, auf denen das normschaffende Sprechhandeln beruht, wahr sind – was ein Fall des relativen, lokalen Tatsachenrelativismus […]
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