In diesem post setzen wir die begonnene Synopsis von Paul Boghossians Buch „Angst vor der Wahrheit“ aus diesem und dem letzten post fort.
Wir mußten im letzten post feststellen, daß es einige kontingente Tatsachen gibt, die nicht nur unabhängig von unserem Bewußtsein sind, sondern auch unabhängig sind von der sprachlichen Beschreibung oder der Wahl einer Theorie relativ zu der diese Tatsachen – verstanden als durch wahre Aussagen beschriebene Sachverhalte – auch wirklich bestehen. Insbsondere erstreckt sich diese Unabhängigkeit auf unsere sozialen Interessen und die pragmatischen Gründe, eine Theorie als maßgeblich anzusehen. Mit anderen Worten: Es gibt von uns unabhängige, kontingente Tatsachen, die wir in unseren Verständnis von der Welt berücksichtigen müssen.
Die nächste Frage ist, ob Tatsachen, die wir als Belege in Begründungen verwenden, irgendwie von der Gesellschaft oder unserer Einbettung in sie abhängen können oder gar mit ihr variieren.
V. Begründungskonstruktivismus
Gibt es angesichts bestimmter Belege nur eine Art, rationale Meinungen zu bilden?
- Begründungskonstruktivisten behaupten, daß es keine universalen, epistemischen Tatsachen gibt, die als Begründungen für Meinungen fungieren könnten, sondern daß alle Tatsachen darüber, welche Meinung durch einen gegebenen Beleg gestützt wird, gesellschaftsabhängig variieren.
Die Folge des Begründungskonstruktivismus ist, daß verschiedene Personen angesichts derselben Belege unterschiedliche Schlußfolgerungen ziehen können und dennoch mit dem gleichen Recht beanspruchen können, rational zu sein: Es gäbe viele, radikal unterschiedliche Weisen, die Welt zu verstehen (z.B. Rorty 1981, L. Wittgenstein, Über Gewißheit). Und wie beim Tatsachenkonstruktivismus versteht man die Variante des sozialen Konstruktivismus erst, wenn man sie hinreichend präzisiert. Und das machen wir jetzt erst mal.
Wie funktionieren epistemische Gründe? In welchen Sinne könnten Beobachtungen unsere epistemische Praxis bestimmten? Die Rolle der Beobachtung wollen wir wie folgt festlegen und dafür festsetzen, daß „Proposition“ dasjenige bezeichnet, was ein assertorischer Satz aussagt:
- (17) Für jede Beobachtungsproposition P gilt: Wenn die Person A den visuellen Eindruck hat, daß P, und die Begleitumstände K bestehen, dann ist A prima facie berechtigt, zu behaupten, daß P.
Hier wird angegeben, wie eine in einem noch anzugebenden Sinne gerechtfertigte Meinung erzeugt wird, so daß man von einem generativen Prinzip sprechen könnte. Entsprechend verstehen wir unter einem Übertragungsprinzip eine Regel, eine Meinung aus einer anderen nach bestimmten Korrektheitskriterien zu erzeugen. Paradebeispiel dafür ist die deduktive Logik. Deutlich fragwürdiger ist die im Alltag nicht minder häufige Induktion:
- (18) Wenn A oft genug beobachtet hat, daß auf ein Typ-A-Ereignis ein Typ-B-Ereignis folgt, dann ist A zu der Meinung berechtigt, daß Typ-A-Ereignisse Typ-B-Ereignisse auch auf irgendeine Weise hervorbringen.
Als fundamentale epistemische Prinzipien wollen wir solche Prinzipien bezeichnen, die nicht aus anderen Prinzipien abgeleitet werden können. Ein fundamentales, epistemisches Prinzip ist z.B. der Schluß auf die beste Erklärung, der wie folgt lautet:
- (19) Wenn A zu der Meinung berechtigt ist, daß P, und berechtigterweise der Meinung ist, daß Q die beste Erklärung für P ist, dann ist A auch zu der Meinung berechtigt, daß P.
Mit diesen Beispielen kann man den Begründungskonstruktivismus so formulieren:
- a) Es gibt keine universellen Tatsachen darüber, welche Information zu einer bestimmen Meinung berechtigt. (auch: epistemischer Nicht-Absolutismus)
- b) Wenn die epistemischen Urteile einer Person A irgendeine Aussicht auf Wahrheit haben sollen, dann dürfen wir Äußerungen der Form „x berechtigt zur Meinung M.“ nicht als Ausdruck der Behauptung „x berechtigt zur Meinung M.“ verstehen, sondern als Ausdruck der Behauptung „Gemäß dem epistemischen System S, daß ich, A, befürworte, berechtigt x zur Meinung M.“ (auch: epistemischer Relationismus)
- c) Es gibt viele grundlegend verschiedene, disjunkte epistemische Systeme, aber keine universellen Tatsachen, die eines von ihnen als wahrer, adäquater oder korrekter auszeichnen würden. (auch: epistemischer Pluralismus)
Zusätzlich kann man den solchermaßen aufgestellten Begründungskonstruktivismus durch eine – in meinen Augen falsche – pro-Argumentation noch transparenter machen:
- i) Es ist de facto nicht möglich, zu berechtigten Meinungen darüber zu kommen, welche universellen epistemischen Tatsachen es für empirische Meinungen gibt. Und die Idee einer Begründung dafür funktioniert so: Wenn wir mit Gründen daran zweifeln, daß unsere Prinzipien wirklich zu berechtigten Meinungen führen, warum sollte uns dann die Tatsache beruhigen, daß wir zugunsten dieser Prinzipien ein Argument konstruieren können, daß sich auf diese Gründe stützt? Diese Prinzipien anzuzweifeln, heißt ja nichts anderes, als den Wert der Meinungen anzuzweifeln, zu denen man auf ihrer Grundlage kommt. Es scheint daher so zu sein, daß wir nicht mal nach unseren eigenen Maßstäben die Frage entscheiden können, welches epistemische System korrekt ist, sobald die Frage nach der Korrektheit nur einmal rationalerweise aufgeworfen ist (Fumerton 95). Sollte es daher universelle Tatsachen über Berechtigungen für emprischen Meinungen geben, dann können diese Tatsachen nicht erkennbar sein.
- ii) Also: Es gibt keine universellen epistemischen Tatsachen. (epistemischer Nicht-Absolutismus)
- iii) Wenn es keine universellen epistemischen Tatsachen gibt, dann ist der epistemische Relativismus wahr.
- iv) Also: Der epistemische Relativismus ist wahr.
Die Prämisse iii) ist allerdings keineswegs banal: Gibbard 1990 hat die These vertreten, daß Urteile der Form „x berechtigt zur Meinung M.“ keineswegs Tatsachen ausdrücken, sondern die Akzeptanz eines Systems von Normen, nach dem x die Meinung M erlaubt. Diese Position nennt man auch Expressivismus in Bezug auf epistemische Urteile. Expressivisten stimmen dem epistemischen Nicht-Absolutismus zu, nicht aber dem epistemischer Relationismus (siehe Boghossian 2001, Crispin 2001).
Auch der Begründungskonstruktivismus ist mit zahlreichen Problemen gesegnet:
1) Das Problem der Kohärenz:
- i) Ein epistemisches System besteht aus einer Anzahl allgemeiner, normativer Propositionen – aus epistemischen Prinzipien – die festlegen, unter welchen Bedingungen bestimmte Arten von Meinungen in bestimmter Hinsicht berechtigt sind. Doch wenn man sich ansieht, welche epistemische Prinzipien wir so akzeptieren, dann sieht man, daß sie fast immer Verallgemeinerungen oder Abstraktionen ganz konkreter, bestimmter, epistemischer Urteile sind und diese als Einsetzungsinstanzen haben. Und genau das ist aber ein Problem – denn:
- ii) Epistemischer Relativismus besteht in der Behauptung, daß einige, ganz konkrete epistemische Urteile durchweg falsch sind und daher durch relative Urteile ersetzt werden müssen. Sind aber die epistemischen Prinzipien nur Verallgemeinerungen oder Abstraktionen konkreter epistemischer Urteile, dann können sie kaum besser, verläßlicher oder wahrer sein als diese relativen Urteile. Und dasselbe gilt dann natürlich auch für die epistemischen Systeme, die sie konstitutieren. Die einzigen epistemischen Prinzipien, die nicht entweder Abstraktionen oder Verallgemeinerungen konkreter epistemischer Urteile sind, sind die formalen Aussagen der deduktiven Logik.
- iii) Die crux entsteht nun dadurch, daß ein epistemischer Relativist irgendeinem System zustimmen muß, wenn er über die Begründung seiner Meinungen sprechen will. Denn anderfalls wäre unverständlich, was es eigentlich heißen soll, daß A denkt, er habe einen relativen Grund für M. Die Befürwortung eines solchen Systems, das nach Voraussetzung aus falschen epistemischen Prinzipien besteht, ist jedoch völlig inkohärent. Insbesondere wird sich niemand dafür interessieren, was mit deduktiver Korrektheit aus einer Menge falscher Aussagen folgt. Denn: ex falso quod libet. Und das bedeutet, daß von einer normativen Autorität eines epistemischen Systems zu bestimmten und keinen anderen Aussagen gar nicht mehr geredet werden kann.
Diesem Problem kann der Begründungskonstruktivismus auch nicht dadurch entrinnen, daß man behauptet, bestimmte epistemische Urteile seinen nicht falsch, sondern lediglich unvollständig und deshalb unwahr. Denn einerseits ist es schwer, zu verstehen, warum man eine Menge unvollständiger Aussagen eher befürworten sollte, als eine Menge falscher Aussagen. Und andererseits benötigt ein unvollständiges System der Vervollständigung durch ein epistemisches System, das seinerseits unvollständig wäre etc. was in einem Regreß ad infinitum führt.
Nach diesem Argument verliert der Begründgungskonstruktivismus seine Fähigkeit, wahre von falschen Aussagen durch Gründe zu unterscheiden, komplett.
2) Das Problem der Normenzirkularität:
Die bisherige Argumentation in diesem post für einen epistemischen Relativismus via Begründungskonstruktivismus hing ab von folgender Annahme:
- (20) Es ist nicht möglich, zu berechtigten Meinungen darüber zu kommen, welche universellen epistemischen Tatsachen es gibt.
Der epistemische Relativismus ist falsch genau dann, wenn diese Prämisse falsch ist. Ziel wird es im Folgenden sein, (20) zu widerlegen.
Man wird im ersten Schritt hierfür sicher zugeben, daß irgendeine Form blinder, ungerechtfertigter Berechtigung zu grundlegenden Teilen des eigenen epistemischen Systems unvermeidlich ist: Alles andere führt in einen Rechtfertigungsregreß (Boghossian 2003) – ein Problem, das schon lange aus der Diskussion des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus bekannt ist. Dieses Argument schließt natürlich nicht aus, daß man Teile des eigenen epistemischen Systems mit guten Gründen revidiert.
Wenn es aber passieren sollte, daß wir mit einem alternativen, epistemsichen System konfrontiert werden, sollte man dann nicht auch nach eigenen Maßstäben erkennen und beurteilen können, daß eines der beiden Systeme in irgendeinem Sinne adäquater ist? Würden wir darüber nicht genauso nachdenken, wie über Fragen oder Probleme relativ zu einem gegebenen epistemischen System?
Im zweiten Schritt muß man sich klar machen, daß Fumertons These, daß wir nicht hoffen dürfen, unsere eigenen epistemischen Prinzipien durch andere Prinzipien als berechtigt auszuweisen, im allgmeinen nicht wahr ist, sondern nur in dem besonderen Fall eines legitimen Falls eines Zweifels an der Korrektheit unserer eigenen Prinzipien. In Abwesendheit eines solchen Zweifels darf man sich durchaus auf seine eigenen epistemischen Prinzipien verlassen und der epistemische Relativismus erlaubt uns das auch explizit.
Nehmen wir nun einmal an, daß Folgendes wäre wahr:
- (21) Wenn wir einer tatsächlichen, kohärenten, fundamentalen, genuinen Alternative zu unserem epistemsichen System begegnen, deren Erfolgsbilanz eindrucksvoll genug ist, um uns an der Korrektheit unseres eigenen Systems zweifeln zu lassen, dann sind wir nicht mal nach unseren eigenen Maßstäben in der Lage unser eigenes System zu verteidigen.
Offenbar wäre (21) ein glaubhafter und realistischer Fall, in dem wir wirklich nicht weiter wüßten. Was könnte durch (21) gezeigt werden? Genau das hier:
- (22) Wenn ein legitimer Zweifel an der Korrektheit unserer gewöhnlichen, epistemischen Prinzipien aufkäme, dann wären wir nicht imstande, zu berechtigten Meinungen über ihre Korrektheit zu kommen.
Das entscheidende Argument an dieser Stelle liegt nun darin, daß unabhängig von diesen Maßstäben (21) nicht etwa (20) belegt, sonden nur (22), während (22) mit der Falschheit von (20) völlig kompatibel ist. Denn es ist mit unserer Berechtigung zu einer bestimmten Meinung unter bestimmten Bedingungen kompatibel, daß es andere Bedingungen gibt, die uns nicht zu derselben Meinung berechtigen würden.
Bereits damit ist das zentrale Argument für den epistemischen Relativismus via Berechtigungskonstruktivismus gescheitert.
Ein anderes Argument gegen den epistemischen Relativismus ist noch viel einleuchtender und besagt, daß ein alternatives, konkurrierendes und kohärentes epistemisches System, das eindrucksvoll genug wäre, um legitime Zweifel an der Korrektheit des eigenen, epistemischen Systems aufkommen zu lassen, nicht ohne weiteres zur Verfügung steht – einfach, weil sich die meisten Systeme entweder gar nicht wirklich unterscheiden oder nicht wirklich konkurrieren.
- i) Denn damit sich ein epistemisches System von einem anderen unterscheidet, müßte es völlig andere epistemische Prinzipien in derselben Welt verwenden. Das ist jedoch nur selten der Fall. Die Pointe des Begründungskonstruktivismus besteht aber gerade darin, zu behaupten, daß das fast immer der Fall ist.
- ii) Damit ein System wirklich konkurriert, müßte es mehr als einen lokalen Widerspruch zwischen den beiden Systemen geben, es müßte eine systematische, überall auftauchende Differenz geben, die tief in die soziale oder epistemische Praxis eingreift. Doch aller Erfahrungen nach ist das nur höchst selten der Fall – wenn auch nicht unmöglich.
Damit kann der epistemische Relativismus via Berechtigungskonstruktivismus – selbst wenn er akzeptabel und nicht falsch wäre – kaum von sich behaupten, für uns und in unserer Welt auch relevant zu sein.
Der Artikel wird fortgesetzt.
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