In diesem letzten post zu dem Thema setzen wir die begonnene Synopsis von Paul Boghossians Buch „Angst vor der Wahrheit“ aus diesem, diesem und dem letzten post fort.
Die einzigen Zugeständnisse, die Boghossian bisher in Sachen Konstruktivismus bisher gemacht hat – und in meinen Augen überzeugend – sind folgende:
(A) soziale Bedingtheit von Beschreibungen:
- (23) Welches Schema der sprachlichen Weltbeschreibung wir übernehmen, hängt davon ab, welches Schema wir für aktuell nützlich halten. Und welches sprachliches Schema wir zu übernehmen wir in einer bestimmten Angelegenheit für nützlich halten, hängt von unseren kontingenten Bedürfnissen und gelegentlich sogar von unseren Interessen als soziale Wesen ab. Doch das allein entscheidet eben nicht darüber, welche dieser Beschreibungen wahr oder falsch sind.
(B) relativer, lokaler Tatsachenrelativismus:
- (24) Für einige kontingenten Tatsachen, i.e. wahrerweise bestehende Sachverhalte der Welt, gilt: Wenn es gemäß der Theorie T1 der Person A wahr ist, daß P, dann steht das nicht im Widerspruch dazu, daß es gemäß der Theorie T2 von B wahr ist, daß nicht-P. Dabei steht P für eine Aussage. Darüber hinaus gibt es einige, universelle und kontingente Tatsachen, die unabhängig von unseren Bewußtsein und unseren Interessen als soziale Wesen sind.
Alle anderen Konstruktivismusvarianten werden von ihm zurükgewiesen. Eine sozialer Konstruktivismus von Dingen oder Ereignisse stand ohnehin nie zur Diskussion.
Damit bleibt Boghossian nur noch übrig, einen Erklärungskonstruktivismus zu untersuchen.
VI. Konstruktivismus bei rationalen Erklärungen
Der Erklärungskonstruktivismus behauptet Folgendes:
- Es ist unter keinen, noch so günstigen Umständen auch nur möglich, unsere Meinungen allein auf der Basis unserer Konfrontation mit einschlägigen Belegen, i.e. epistemischen Gründen zu erklären. Mit „erklären“ ist hier gemeint, darzulegen, wie wir dazu kommen, bestimmte Meinungen zu hegen. Auch unsere kontingenten Bedürfnisse und Interessen müssen angeführt werden, um die unvermeidlichen Lücken zu füllen.
Damit diese Behauptung in einem interessanten Sinne wahr ist, muß einer von zwei Fällen vorliegen:
- (25) Entweder unsere epistemischen Gründe tragen niemals irgendetwas zur kausalen Erklärung des Erwerbs unserer Meinungen bei – dann kann man die Erklärung nur in kontingenten Interessen und sozialem Kontext suchen und wir sprechen vom starken Erklärungskonstruktivismus.
- (26) Oder der unsere epistemischen Gründe liefern lediglich eine Teilerklärung – dann sprechen wir vom schwachen Erklärungskonstruktivismus.
Wir starten mit dem starken Erklärungskonstruktivismus in (25).
Es gibt klarerweise Fälle, in denen der starke Erklärungskonstruktivismus definitiv wahr ist:
- Die Tatsache, daß im Iran so viele Islamisten leben, nicht aber am Polarkreis, hat nichts damit zu tun, daß am Polarkreis weniger Belege für die Glaubwürdigkeit des Koran verfügbar wären als im Iran. Dieser Unterschied hat klarerweise mit nichts anderem als mit sozialen Faktoren zu tun.
In anderen Fällen, leuchtet er gar nicht leuchtet ein:
- (27) Warum aber deshalb der visuelle Eindruck einer Katze auf dem Dach nichts mit der Meinung, daß gerade eine Katze auf dem Dach sitzt, zu tun haben soll, ist unerfindlich.
Normalerweise versuchen Erklärungskonstruktivisten gar nicht erst, zwischen diesen Fällen zu unterscheiden.
Starker Erklärungskonstruktivismus geht auf den Wissenschaftssoziologen David Bloor in: Knowledge and Social Media (1976) zurück und bezieht seine Plausibilität daraus, mit einer anderen These gekoppelt zu werden:
- Damit ist die These von der der Fähigkeit der Wissenschaftssoziologie gemeint, nicht nur die Organisation von Wissenschaft von auch ihre Inhalte zu beschreiben. Dafür wird der Fokus von den Meinungen, die als Wissen gelten können, hin zu Meinungen verschoben, die nur für Wissen gehalten werden: Eine solche Wissenschaftssoziologie versucht, die Bedingungen der Übereinstimmung in den Meinungen zu erklären, an die sich die Menschen halten und nach denen sie leben.
Daher interessiert sich eine so verstandene Wissenschaftssoziologie wie sie von auch von Bruno Latour, Steve Woolgar oder Andrew Picking favorisiert wird auch für die Entstehungsbedingungen von Meinungen und dies gilt unabhängig davon, ob diese Meinungen wahr oder falsch rational oder irrational sind. Letzteres nennen wir das wissenschaftssoziologische Symmetriepostulat bei Meinungen.
- Es gibt Unterschied besteht zwischen einem Symmetriepostulat bzgl. Rationalität und einem bzgl. Wahrheit. Letzteres besagt, daß wahre Meinungen von einer Konfrontation mit Belegen herrühren und falsche von einer Konfrontation mit irreführenden Belegen.
Um die Pointe der Wahrheitssymmetrie deutlich zu machen, betrachten wir ein Beispiel:
- (28) Die Erde ist flach.
Bekanntlich argumentierte Aristoteles, daß der Erdschatten auf dem Mond immer rund ist unabhängig vom Sonnenstand, was nur bei einem kugelförmigen Objekt möglich ist, so daß (28) falsch sein muß. Und eigentlich nur die voraristotelischen Griechen glaubten, die Erde sei flach. Dennoch berufen sich beide Seiten auf Belege. Sind diese Belege fallibel, dann ist es mit der Falschheit einer Meinung vereinbar, daß die Entstehung dieser Meinung erklärt wird mit einer Konfrontation mit diesen falliblen Belegen.
Es ist ziemlich klar, daß nicht alle Meinungen wahrheitssymmetrisch sind, denn einige Meinungen sind so dermaßen offensichtlich evident, daß es schwierig wird, die Entstehung ihrer Negation mit denselben Belegen ebenfalls zu erklären, wie ihre konträren Meinungen. Bsp.: Rot ist Orange ähnlicher als Blau. Wer das bestreitet, ist vermutlich farbenblind. Daher muß nicht jede Meinung von einem unabhängigen Indiz gestützt werden, das einen Beleg zu ihren Gunsten darstellt, einfach weil sie intrinsisch glaubwürdig sind. Welche nicht-zirkulären Meinungen könnte man z.B. anführen für die Meinung, daß man momentan bei Bewußtsein ist? Zumindest im Hinblick auf offensichtliche Propositionen ist daher eine die Wahrheit betreffende Symmaetrie nur sehr schwer aufrecht zu erhalten.
Nehmen wir entgegen der eben erfolgten Widerlegung der unbeschränkten Wahrheitssymmetrie bei Meinungen mal an, daß es keine selbstevidenten Meinungen gäbe. Doch das allein belegt (25) noch nicht, denn der starke Erklärungskonstruktivismus in (25) erfordert eine Rationalitätssymmetrie und Rationalitätssymmetrie wird nicht von Wahrheitssymmetrie gestützt. Stattdessen beruht das Plädoyer für Wahrheitssymmetrie auf der Falschheit der Rationalitätssymmetrie, da es sich auf unserer Fähigkeit stützt, wahre und falsche Meinungen durch den Hinweis auf Belege zu erklären. Ein eigenständiges Argument für Rationalitätssymmetrie bei Meinungen steht daher nach wie vor aus.
Stattdessen gibt es Argumente gegen den starken Erklärungskonstruktivismus:
- i) Es gibt nichts, was unserer epistemischen Gründe davon abhält, unsere Meinungen auch hervorzurufen. Epistemische Gründe sind Erfahrungen und Gedanken, die in einer angemessenen Rechtfertigungsbeziehung zu unseren Meinungen stehen.
- ii) Wir müssen zwischen begründeten und auf Vorurteilen beruhenden Meinungen unterscheiden können, wenn wir mit alltäglichen Erfahrungen fertigwerden und aus ihnen lernen können wollen – was wir auch tun. Eine Rationalitätssymmetrie der Meinungen aber würde jede Orientierung unmöglich machen.
- iii) Wer die Meinung vertritt, das epistemische Gründe niemals zu Meinungen motivieren, muß sich sich selbst als jemanden vorstellen, der diese Meinung vertrtt, weil sie gut begründet wurde und nicht nur persönlichen Interessen folgt. Denn man kann nicht glauben, was man selbst für falsch hält. Doch das läuft auf eine Selbstwiderlegung des starken Erklärungskonstruktivismus hinaus.
Also: Ein starker Konstruktivismus in Bezug auf rationale Erklärungen ist daher falsch, unverbürgt und instabil. Wenden wir uns daher dem schwachen Erklärungskonstruktivismus zu. Welche Argumente könnten für ihn geltend gemacht werden?
Diese Variante in (26) wird auf den ersten Blick gestützt durch die aus der Wissenschaftstheorie bekannten These von der Unterbestimmtheit von Meinungen durch Belege nach Thomas Kuhn. Cum grano salis kann man Kuhns Idee so charakterisieren:
- Wissenschaftliche Paradigmenwechel sind nur möglich, wenn die Belege nicht hinreichend sind für die Erzeugung der Meinungen. Beispiele dafür sind: Der Übergang von ptolemäischen zum kopernikanische System, Newtons Verdrängung der aristotelischen Bewegungslehre, der Übergang von der newtonschen zur relativistischen Physik. Das gilt jedoch nur, falls die Paradigmenwechsel nicht anders als historisch oder soziologisch erklärt werden können. Letzteres wird von Kuhn aber nicht historisch belegt, sondern lediglich gefolgert und zwar daraus, daß man angeblich jeweils nicht von einer vergleichbar besseren Theorie sprechen könnte. Kuhn spricht daher von einer Inkommensurabilität von Theorien aus verschiedenen Paradigmen, die epistemischen Systemen gleichkommen, und nennt dafür drei Quellen: Erstens weichen die Normen und Definition der Paradigmen voneinander ab. Zweitens benutzt das neue Paradigma Begriffe, die im alten Paradigma nicht ausgedrückt werden können. Und drittens handeln verschiedene Paradigmen in einem wesentlichen Sinne nicht von demselben Inventar unserer Welt. Dieses Position bedeutet jedoch nicht, daß Kuhn Argumente in der Wissenschaft für total irrelevant hält.
Angenommen Kuhn hätte mit seiner Sichtweise recht. Dann würde daraus dennoch kein schwacher Erklärungskonstruktivismus folgen.
- i) Denn erstens hat Kuhn ein empirische These, braucht aber eine Begründung von (26) für eine modale These, derzufolge unsere Belege notwendigerweise hinter unseren Meinungen zurückbleiben.
- ii) Und zweitens kann die These von der Inkommensurabilität aufgeteilt werden in zwei Teile: Die Frage der wechselseitigen Übersetzung und die Frage nach den jeweils gültigen Standards. Globales Übersetzungsversagen zwischen epistemischen Systemen kann aber nicht gemeint sein, da man in dem Fall nicht mal feststellen könnte, ob beide Theorien über dieselbe Proposition überhaupt unterschiedlicher Meinung sind. In diesem Fall wäre ein Paradigmenwechsel nicht mal rational. Partielles Übersetzungsversagen ist hingegen nicht notwendig mit der Rationalität eines Paradigmenwechsels inkompatibel, da hierfür nur der Vergleich zentraler Behauptungen konkurrierender Theorien gefordert wird. Aber nicht mal Kuhn bestreitet, daß ein Paradigma durch das andere deshalb ersetzt, weil es Probleme besser löst als das alte.
- iii) Letzteres ist ein Beleg dafür, daß wenigstens einige Standards nicht mit Paradigmen ausgewechselt werden oder sonst variieren.
Damit kann Kuhns Idee nicht für eine Begründung des schwachen Erklärungskonstruktivismus herhalten.
Eine andere Möglichkeit, ein Argument für den schwachen Konstruktivismus zu gewinnen, verspricht auf den ersten Blick die Unterbestimmtheitsthese nach Pierre Duhem. Dieser behauptet, daß ein Experiment nicht per se einer als wahr angenommenen Theorie widerspricht, sondern es für die Konfrontation des Ausgangs des Experimentes mit der Theorie Hilfshypothesen über die Ausgangsbedingungen und das Funktionieren des experimentellen Apparates und dgl. mehr geben müsse. Seine Folgerung ist daher: Es muß im Fall der Konfrontation mit widersprechenden Belegen etwas revidiert werden, aber das ist nicht unbedingt die in Rede stehende Theorie.
- i) Die Pointe von Duhems Idee liegt darin, daß man aus rationalen Gründen nicht entscheiden kann, welche Revisionen durch ein experimentum crucis erforderlich sind.
- ii) Der schwache Konstruktivismus folgert daraus, daß soziale Elemente als pragmatische Gründe darüber entscheiden, was als widerlegt gilt und was nicht.
Der Haken an Duhems Idee ist, daß z.B. bei astronomischer Beobachtung zum Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild die optische Theorie zum Teleskop nicht in derselben Weise aufgrund der Beobachtungen zur Disposition steht, wie die Theorie der Planetenbewegungen, denn die optische Theorie zum Teleskop ist auf andere Weise bestätigt und die Frage ist, wie diese Belege mit neuen Beobachtungen zu Planetenbewegungen in Konflikt geraten sollen. Es ist nicht unmöglich, daß das jemals passiert, aber es ist einfach falsch, daß das jedes Mal passiert. Duhems Behauptung kann daher einfach nicht stimmen.
Damit fehlt nach wie vor eine vernünftige Begründung für den schwachen Erklärungskonstruktivismus in (26) – im Gegenteil, es gibt viele Beispiele aus der Wissenschaft, in denen der update von Meinungen allein durch Belege gesteuert ist. Nicht ausgeschlossen werden kann an dieser Stelle, daß es überhaupt Fälle von (26) gibt oder geben könnte. Der Punkt ist hier: Wir haben kein Argument gefunden, warum (26) immer und in jedem Fall unvermeidlich ist.
Ich halte Boghossians Buch für ein Standwerk zum epistemischen Relativismus, das den Nerv der Postmoderne und damit den Feminismus der dritten Welle, den Genderismus, trifft, und ebenfalls für die science wars von eminenter Bedeutung ist – klare Leseempfehlung.
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