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Theorie der Männlichkeit – Teil 1

In einer Reihe von Gastbeiträgen bei uepsilonntiks hatte ich die ungeheuere Vorarbeit von Prof. Dieter Tomä in seinem Buch Puer Robustus (2016) zu den literarisch-philosophischen Ursprüngen von Männlichkeit referiert. In dieserm Post knüpfe ich daran an und entwickle in mehreren post meine darauf aufbauende kulturelle Theorie der Geschlechter, die überraschend abendländisch und vor allem eine kognitive, keine biologische Theorie sein wird.

Nicht alles, was Tomä in seinem Buch verarbeitet hat, halte ich für brauchbar, um zu analysieren, welches – immer interpretationsfähige und interpretationsbedürftige – Modell der Geschlechter und insbesondere der Männlichkeit die abendländische Kultur entwickelt hat.

  • Anders als Biologisten, die kulturelle Einflüsse nur als Rauschen auf einem biologischen Determinismus einschätzen, rede ich innerhalb meiner kulturellen Theorie der Geschlechter nicht davon, daß Männer oder Frauen im Mittel und langfristig oder tendentiell etwas tun oder tun werden, sondern davon, woher ein Modell kommt, welches Personen benutzen, um sich in ihren autonomen Entscheidungen zu orientieren bzw. davon, was innerhalb des kognitiven Modells Sinn macht, wahrscheinlich ist oder einfach nicht erklärt werden kann: Nichts hindert angesichts dessen Menschen trotzdem irgendwas anderes zu machen, etwas Unverständliches, etwas Verrücktes oder einfach nur Matrazen auf ihren Köpfen zu balancieren.

Um den Ansatz meiner kulturellen Theorie der Geschlechter klar zu machen, setze ich im Folgenden voraus die Vorarbeit von Tomä voraus. Das pdf, in dem alle Texte noch einmal enthalten sind, kann hier heruntergeladen werden.

Thomas Hobbes (1588 – 1679) :

Tomä sieht Hobbes puer robustus als Schwellenwesen, welches den Konflikt zwischen Macht und Moral im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft austrägt. Ich halte das für eine Fehldeutung. Denn das Geschlecht allein reicht bei Hobbes aus, damit der Mann aufgrund seiner Stärke außerhalb der Gesellschaft steht. Das Schwellenwesen ist bei Hobbes das Resultat einer Fehlentwicklung im Laufe der persönlichen Entwicklung. Nur wer sich den Normen der Gesellschaft unterwirft, wird dadurch zivilisiert. Daraus folgt, daß schon immer zivilisiert war, wer nie versucht hat, jenseits von jeder Gesellschaftsordnung in Eigenverantwortung Moral oder Gesellschaftsnormen zu erfinden und zu begründen oder nach der Wertschätzung der Gesellschaft zu streben. Ganz offenbar hat Hobbes einen tiefen Widerwillen gegen Männer, die er von Anfang an in seinem Leben als Verweigerer ihrer Eingliederung in die Gesellschaft wahrnahm und die er als Narren, Tollwütige, herrenlose Ronin, verwahrloste Vagabunden, Bettler, Wanderarbeiter und Schausteller herumziehen sah und als Quelle von allerei allerlei Unruhe einschätzte, weil sie ihren Verstand nicht gebrauchen, daher eine Unterwerfung verweigern und stattdessen – ja, was machen sie nur – vermutlich irgendwelchen unwürdigen Begierden folgen. Ich kann hier keinerlei Sympathie von Hobbes für die Deutung von Männlichkeit als Schwellenwesen erkennen. Im Gegenteil: Was männlich ist, ist erst mal eine Problem für den Frieden sowie kluge, zivilisierte Menschen und muß schleunigst gezähmt werden.

  • Mal ehrlich: Wenn das wirklich alles ist, dann ist Hobbes ein herablassender Sexist, der sich getraut hat, aus seiner persönlichen Furcht eine Staatstheorie gemacht hat. Hobbes als Vertreter von Männlichkeit als Projektionsflüche für den Konflikt von Macht und Moral auszugeben, taugt nun wirklich gerade mal zum literarischen Feigenblatt.

Hobbes analysiert Männlichkeit gar nicht, er lehnt eine gegebenes Verständnis von Männlichkeit schlicht ab und möchte, daß Männer nicht etwa eigene Wünsche entwickeln und verfolgen, sondern sich rückhaltlos in den Dienst fremder kollektiver Interessen zu stellen – ein Kollektiv, an dem sie aufgrund ihres biologischen Geschlechtes gar nicht teilhaben.

Aber: Hobbes hat offenbar beobachtet, daß die persönlichen Eigenschaften von Männern eine wesentliche Rolle für das innere Funktionieren der Gesellschaft spielen. Mit anderen Worten: Hobbes hat Männlichkeit intrinsisch politisiert. Das ist ihm bei Weiblichkeit nicht eingefallen. Vermutlich hat er es gar nicht in relevantem Ausmaß beobachtet.

Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) :

Rousseau der Ansicht ist, daß zivilisiert zu werden, einem radikalen Verlust an natürlicher Freiheit und damit an Menschlichkeit gleichkommt. Zweitens tun bei Rousseau alle Menschen im Naturzustand – angestachelt durch in der Pubertät erwachende Leidenschaften – nur aus Unwissenheit Böses. Das gilt auch für die Frauen, denn alle Menschen werden durch das gegenseitige Hochschaukeln im sozialen Miteinander von Erwartungen und Enttäuschungen angetrieben und nur das Mitleid mit den Mitmenschen verhindert das Allerschlimmste. Ein Geschlechterunterschied kommt bei Rousseau wie folgt ins Spiel: Weiblichkeit ist zu den Lebzeiten von Rousseau aber bereits weiblich konnotiert und Rousseau sieht die Männer eher in der Rolle derer, die gegen ihren Willen durch eine feindselige Gesellschaft zum Kampf gezwungen werden. Die Rolle des Mann als Störenfrieds ergibt sich bei Rousseau nicht aus innerer Bestimmung, wie man sie etwa vom antiken Herakles kennt, sondern als Nomozentriker aus der Notwendigkeit zur visionären, politischen Umwälzung jenseits von Unterdrückung und Unmenschlichkeit: Hobbes politische Ausrichtung der männlichen Geschlechterrolle wird hier wiederholt, aber nicht aus innerem Antrieb heraus, sondern als Reaktion auf äußere Umstände.

Rousseau beschreibt im Grunde nur die traditionellen Geschlechterrollen, die er zu seiner Zeit bereits vorgefunden hat, und die wir bis zum Erbrechen kennen. Allerdings transferiert er sie in denselben politischen Rahmen, den wir bereits von Hobbes kennen: Die Frauen sind in der Gesellschaft die Mitleidigen, die trotz ihrer notorischen Fehlschläge bei der Sublimierung ihrer Leidenschaften, i.e. ihrer eigenen Selbsterziehung immer Mitleid haben und auch immer haben dürfen und so das Schlimmste verhindern. Der Mann hingegen ist ein Kämpfer gegen gesellschaftliche Unterdrückung und Unmenschlichkeit, der nicht nur Mitleid zeigen darf, sondern auch mal Härte zeigen muß.

Wieder unterstellt Tomä Rousseau eine Theorie von Männlichkeit als Schwellenwesen – ohne wirklichen Grund. Denn Rousseau bezieht eindeutig Position: Die Frau ist die Quelle des Chaos in der Gesellschaft und ein Mann, der nicht im Naturzustand leben kann, sondern in der Gesellschaft leben muß, übernimmt die Ordnungsfunktion. Der Frau bleibt die Machtposition in der Familie.

Denis Diderot (1713-1784):

Diderot fügt dem bisherigen Männlichkeitsnarrativ ein aufklärerisches und ungehemmt individualistisches Element hinzu – und damit das Moment der Eigenverantwortlichkeit. Denn er diskutiert die sozialen Umstände, die zusammen mit den persönlichen Anlagen beeinflussen, in welcher Rolle der Mann durch Bewältigung verantwortungsgesteuerter Konflikte auftritt. Neu ist das Motiv des Mannes als Romanautor seines eigenen Lebens: Der puer robustus bei Diderot ist der Prototyp eines Menschen, der mit Hilfe seiner natürlichen Anlagen mit sich selbst und mit unterschiedlichen Lebensformen experimentiert – je nach den sozialen Umständen und Erfahrungen, zu denen er innerhalb der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung Zugang hat. Entsprechend könnte man ihn als Exzentriker, als Zentrum von moralisch-psychologischen Ausnahmesituationen bezeichnen, die nicht immer widerspruchsfrei sein müssen: Männlich sind auf einmal die outlaws, die Dränger und Stürmer, die Aufrührer und Quertreiber, die Einsiedler, Misanthropen und Poeten, die das Leben bis heute erst interessant und unberechenbar machen. Denn Männlichkeit wird bei Diderot von der Beschränkung befreit, erfolgreich sein zu müssen – was Hobbes und Reousseau noch unausgesprochen angenommen haben.

Der Mann bei Diderot ist der Mensch, der die Welt in Bewegung bringt und zwar gerade aufgrund seiner Fähigkeit zur Reflexion und dem geistigen Wandel – was immer dabei herauskommen mag.

Johann Christoph Friedrich Schiller (1759-1805):

Wirklich interessant wird es jetzt zum ersten Mal. Denn bei Schiller stellt der puer robustus stellt Unterwerfung in Frage, er wird zum Kind kantischer Aufklärung, welches den Schlüssel zu einer neuen politischen Ordnung im Sinne der Selbstgesetzgebung in der Tasche trägt. Schiller ist klarer Kontrahent von Hobbes, denn es geht bei Schiller nicht nur um negative Freiheit, um Abwehrrechte, sondern um den Schlüssel zu einer neuen politischen Ordnung im Sinne der Selbstgesetzgebung, um positive Freiheit, um Gestaltungsfreiheit, die die Männer angeblich in den Händen halten – falls ihre natürliche Kompetenz zur Sozialität nicht durch individuelle Erfahrungen ruiniert wird.

Daß das was mit Männlichkeit zu tun hat, ist die erste steile These zum Thema: der Mann wird geschildert als nomozentrischer Störenfrieds und als Sucher nach Selbstgesetzgebung. Denn das Böse bekommt bei Schiller eine psychologische Vor- und Entwicklungsgeschichte und es gibt keine feststehenden Eigenschaften mehr, an denen man ohne weiteres festmachen könnte, wer gut und wer böse ist, wer als guter oder schlechter Mensch begann oder wie er enden wird.

Im Grunde ist das zum ersten Mal eine kulturelle, nämlich aufklärerische Theorie der Männlichkeit: zum Mann wird man durch eine Folge von Erfahrungen, die nur in einer Gesellschaft möglich sind, ohne daß eine Vorstellung von Erfolg oder Scheitern in die männliche Geschlechterrolle eingebaut wird. Das scheint Schiller von Diderot übernommen zu haben. Die physische Stärke des biologische Geschlechtes hat etwas damit zu tun, daß man sich als Mann überhaupt auf diese Reise der persönlichen Enttäuschung, der politische Entrechtung und ökonomischen Entbehrung begibt, sich begeben muß. Auch die Verquickung persönlicher Eigenschaften mit makroskopischen Folgen auf der politischen Bühne, ist immer ein Thema bei Schiller.

Mit anderen Worten: Was der Mensch in seiner Sinnsuche durchstehen kann, wird ihm bei Schiller zugemutet. Der Kindergarten wurde für Männer geschlossen und der biologische Geschlechterdimorphismus ist dabei noch ganz natürlich. Und was daraufhin passiert, macht Männer zu männlichen Männern – ob das nun irgendwie gut für sie ausgeht oder nicht.

Victor Hugo (1802-1885) :

Es scheint, als hätte Schiller einer abendländischen Theorie der Männlichkeit den Boden bereitet, denn mit dem Romantiker Victor Hugo werden gleich mehrere neue Männlichkeitsnarrative eingeführt:

  1. Der Mann als starker Mensch ist in der Rolle des nomozentrischen Störenfrieds zur Suche nach Selbstgesetzgebung aufgefordert und wird darin oft mißverstanden – ob zu Recht oder zu Unrecht sei hier dahingestellt. Und die Welt hat nichts Besseres zu tun, als mit Spott und Demütigung zu reagieren. Sowas passiert eben Männern i.e. Menschen auf der Suche nach Selbstgesetzgebung. Manche Männer reagieren darauf mit Wildheit oder schlagen zurück mit dem Mut der Verzweiflung, andere wachsen aus eigener Kraft über sich und die eigenen Schwächen hinaus.
  2. Manche Männer haben nicht aus sich selbst heraus nicht die Kraft dazu. Sie benötigen unter Umständen eine Art Katalysator der Erhabenheit, der sich mitleidig aus seiner Höhe zu der monströsen Fehlexistenz des gedemütigten Mannes herabsenkt, und ihm hilft, sich vom Bösen zu befreien. Logischerweise kann erst durch die Befreiung vom Bösen das erhabene Wesen zum Mann auch Gefühle entwickeln – und siehe: der Mythos von der Schönen und dem Biest wurde geboren.
  3. Doch manche Männer bringen als Person die Stärke auf, über ihre Demütigungen zu lachen,  den Mut, Regeln zu brechen, aus purer Lebenskraft dem Unglück ins Gesicht zu lachen und sich selbst zu befreien: Viktor Hugos Figur des Herumtreibers angelt in der Gosse, wälzt sich im Mist und steht mit Sternen übersät wieder auf. Er lebt wild und unverfroren, entwickelt sich unvorhergesehen, schließt sich anderen im Leid an und trennt sich wieder von ihnen, ist nachdenklicher Zeuge der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Auch die ganze politische Anarchie ist im Herumtreiber, im Straßenjungen Hugos, enthalten und es gibt tausend Geschichten, in denen dieser gesellschaftlich Kleine gar nicht schön und erhaben daherkommt und dann auf historisch zufällige, aber doch irgendwie vorhersehbare Weise auf einmal ganz groß wird, weil er zweierlei mit Nachdruck will: sich die Hose flicken zu lassen und die Regierung stürzen.

Die ganze Romantik von Männlichkeit Victor Hugos wäre unverständlich ohne seine Vorläufer. Doch auch zur weiblichen Geschlechterrolle läßt Hugo etwas durchblicken:

  1. Hugo’s Männlichkeitsnarrative legen nahe, daß Frauen sich typischerweise diese Suche nach Selbstgesetzgebung ersparen. Ihre Stärke reicht im Mittel dafür nicht aus – weder ökonomisch, noch persönlich.
  2. Im Mythos vom Schönen und dem Biest wird die weibliche Geschlechterrolle zum ersten Mal als Parasit geschildert. Denn ohne den niedrig stehenden Mann macht die Auszeichnung der Frau als erhaben gar keinen Sinn und wenn eine Frau keinen Mann von sich selbst errettet, hat sie in ihrer Geschlechterrolle im Grunde gar nichts zu tun und wird bedeutungslos.
  3. Die Rolle der Frau als erhabenes Geschlechtes kann verdient oder sich – faälschlicherweise auf Grund des biologischen Geschlechtes angeeignet werden. Im letzteren Fall wird die Annahme benötigt, daß Männer aufgrund ihres biologischen Geschlechtes dumm oder häßlich oder primitiv sind – was darauf hinausläuft, alles um die männliche Rolle des nomozentrischen Störenfrieds auf der Suche nach Selbstgesetzgebung zu ignorieren. Weiterhin muß der eigene Verdienst, der die erhabene Geschlechterrolle rechtfertigt, von Frauen in dieser Rolle erheuchelt werden.

Die Optionen 1 und 2 bilden einen klaren Widerspruch, der später noch irgendwie aufgehoben werden muß.

  • Die übrigen Autoren, die Tomä durchgeht, sind nach meiner Einschätzung marginale Variationen der bereits geschilderten Männlichkeitsnarrative oder sie sind langweilig.

Was ich behaupte, ist recht anspruchsvoll: Erst Victor Hugo hat eine ernstzunehmende Theorie der Männlichkeit vorgelegt. Welche Gründe kann man dafür in Anschlag bringen?

Was ist eine Theorie der Männlichkeit?

Was kann man über Männer wissen? Was kann man über Personen wissen? Sind alle Menschen Personen und welchen Preis müssen sie bezahlen, wenn sie eine andere Person sein wollen? Was können wir von Menschen sagen, die wir als Personen charakterisieren? Und was davon betrifft Männer?

Starten wir mit dem Offensichtlichen: Personen sind zu allererst reflektierte Wesen: Sie haben nicht nur Wünsche und Meinungen, gemäß derer sie die Welt verändern derart, daß sie sich die Regeln ihres Handelns selbst vorgeben, sie haben auch ein Verhältnis zu diesen Wünschen und Meinungen: Sie erinnern sich an ihre früheren Meinungen und Handlungsgründe, korrigieren sie und entwickeln sie weiter mit Hilfe von Meinungen, die sie über ihre eigenen Meinungen haben und ein Verlust der Kontrolle über z.B. unsere Wünsche könnte ein Hindernis sein für personale Autonomie, insofern die Kontrolle über die Handlungen nicht auf legitime Weise zustandekommt.

  • Wir betrachten dementsprechend Akteure als rational, die, weil sie wissen, was sie denken oder wünschen, sich relativ hierzu mehr oder weniger schlüssig verhalten, so daß das Wissen von den eigenen mentalen Zuständen als notwendige Bedingung der Rationalität sowie der Autonomie der Akteure auftritt. Denn ein erwachsener, geistig gesunder Mensch, der hierzu in keiner Weise in der Lage ist, d.h. auch seine eigenen Wünsche und Meinungen in keiner Weise für angemessen oder wahr hält, ist schwer vorstellbar.

Es gibt verschiedene Strategien, Personen von ihren Handlungen ausgehend zu charakterisieren und dabei auf einen Begriff der Person im Sinne eines dramatischen Zentrums sozialer Zusammenhänge anzuspielen, der in der abendländischen Kultur in verschiedene, nicht-trennscharfe und gewissermaßen regionale Konzepte zerfällt. Diese regionalen Konzepte bilden eine unvollständige Liste verwirbelter Unterströmungen, die denjenigen Entwurf, den wir von unserer eigenen Person machen, insofern unsere Handlungserklärungen in essentieller Weise von diesen Konzepten Gebrauch machen, dominieren.

Sehen wir uns zwei literatisch gut ausgeleuchtete Beispiele dafür an.

Charaktere und ihre Narrative

Betrachtet man Personen als Charaktere, so entscheidet man sich, sie z.B. mit Hilfe von Temperamenten lediglich zu schildern, statt zu analysieren und diese Schilderung muß in keinem Sinne homogen sein, damit die Person als Charakter Glaubwürdigkeit beanspruchen kann.

  • a) Schilderungen von Personen als Charaktere haben etwas Genealogisches und sie verbreiten den Dunst der Vorbestimmung wie attische Olivenhaine ihren harzigen Geruch in der Mittagshitze. Charaktere sind plastisch und berechenbar, nie verdeckt und verschlungen. Sie verkörpern ihre Kräfte und Anlagen im besten Sinne und werden in Geschichten eher tragisch geprüft als entwickelt oder revidiert. Es macht auch kein Sinn zu sagen, daß die innere Stimme des Charakters spricht, während sich der Träger des Charakters verweigert.
  • b) Entsprechend liegt die Stärke eines Charakters in seiner Unverfälschtheit, seiner Unkorrumpierbarkeit und einer gegenüber äußeren Ereignissen stoischen Entschlossenheit, das gleichsam in die Wiege gelegte Schicksal in den Verästelungen des von dem für den gegebenen Charakter bestmöglichen Weg abweichenden Lebensweges durch wiederkehrende, blinde Gewohnheiten zu erfüllen. Schuld und Verantwortung sind hier ebensowenig ein Thema wie eine moralische Erörterung der Entäußerungen von Charakteren.
  • c) Folglich sind Charaktere darauf beschränkt, entweder zu scheitern, wenn sie sich in Zeiten so ungünstiger Umstände vollziehen müssen, daß ihre Tugenden nicht zum Tragen kommen können: Sie werden ruhelos und ungenutzt vor sich hindämmern. Oder sie erfüllen sich – manchmal sogar in grandioser Form: Ein tapferer Charakter wird in Zeiten z.B. des Bürgerkrieges großen Wirkungsraum und Macht zur Handlung haben.

Zwar sind Konflikte als offen widerstreitende Kräfte innerhalb von Charakteren normal, aber Identitätskrisen machen bei ihnen keinen Sinn, weil Charaktere der Sorge enthoben sind, sich selbst aufgrund von variablen Gründen zu immer neuen Entscheidungen durchringen zu müssen. Infolgedessen sind Charaktere brachiale Simplifizierungen, die geschaffen werden, gewisse Eigenschaften von Personen durch- zuspielen und zu illustrieren. Herakles oder Prometheus sind z.B. Charaktere, Franz Biberkopf in Döblins Berlin Alexanderplatz hingegen nicht.

Figuren und ihre Narrative:

Betrachtet man Personen als Figuren, so entscheidet man sich, sie im Kern als Protagoisten einer mehr oder weniger nachahmungswürdigen Lebensweise aufgrund einer Folge von prinzipiengeleiteten Entscheidungen aufzufassen, die über das exemplifizierte Prinzip hinaus keine Erörterung einer individuellen Begründung zulassen.

  • a) Figuren sind anders als Charaktere nicht Verkörperungen einzelner Merkmale, sondern  – mitunter selbstgewählte – Galionsfiguren einer Realitätsauffassung: Sie sind Helden, Betrüger, Boten, Pilger, Verführer, Vertraute, Verbrecher, Revolutionäre, Liebhaber oder um-die-Ecken-Schleicher und weil das so ist, bestimmt die Identität der Figur die Bedeutung der Geschehnisse und die Ordnung der Erfahrungen ihres Trägers in einer sonst nicht transparenten Wirklichkeit.
  • b) Ganz analog zu Charakteren stellt sich bei Figuren die Frage nach einem freien Willen bei der Wahl des Selbstentwurfes gar nicht erst. In beiden Fällen geht es um etwas ganz anderes als die Qualen der rationalen Wahl: Bei Figuren geht es um Exemplifizierung, nicht aber um die Verteilung von Verantwortung oder die moralische Beurteilung in Betrachtung individueller Beschränkungen und Fähigkeiten. Es gibt hier keinen übertragenen Sinn einer Ohnmacht von Figuren, so wie es ihn bei Personen gibt, die von Fall zu Fall versagen können, die zwischen Pflichten zerrieben werden und sich mehr oder weniger klug aus der Affäre ziehen können. All das ist für die Exemplifizierung einer Lebensweise vollkommen gleichgültig.
  • c) Folglich macht die Rede von unverfälschten oder tragischen Figuren im Gegensatz zum Charakter wenig Sinn, denn zum einen bildet eine Figur die Realität weder ab noch teilt sie sie mit, weil sie selbst die Realität in ihrer spezifischen Bedeutung erst erschafft, und zum anderen sind lediglich die Erfahrungen des Trägers der Figur tragisch, nicht aber das exemplifizierte Ordnungsprinzip selbst.

Charaktere werden lediglich vollzogen und haben anders als schicksalhaft selbstgewählte Figuren keinen Platz in der Reflexion einer Person über sich selbst und über ihre Entscheidungen. Paulus, Don Juan oder Cyrano de Bergerac z.B. sind Figuren, nicht aber Shakespeares Henry V oder Thomas Buddenbrook.

  • Diese regionalen Konzepte der Person sind natürlich Extreme und Idealisierungen. Zudem müssen sie nicht unbedingt nur in Handlungen innerhalb von sozialen Zusammenhängen vorkommen, sondern können ihre Wirkung auch in Selbstreflexionen entfalten. Sicher scheint jedoch, daß sie in der Belletristik unverholen, wenn auch selten in Reinform, sondern als Mischformen und relativ zügellos von den Autoren benutzt werden.

Also: Was Victor Hugo offenbar geschaffen hat, sind neue Männlichkeitsnarrative, die als Figuren im Sinne der Charakterisierung von Menschen als Personen durch ihr Handeln taugen. Seine leicht unterbestimmten Modelle männlichen Handelns sind kontextabhängig, ergebnisoffen und damit alltagstauglich. Sie sind auf die Suche nach Selbstgesetzgebung ausgelegt und inhärent politisch.

  • Vergleichen wir diesen Ansatz zu einer abendländischen Theorie der Männlichkeit mit den in der manosphäre kursierenden biologistischen Vorstellungen, dann erkennen wir, daß sie Männer und Frauen als Charaktere schildern. Damit benutzen sie von vornherein einen literarischen Ansatz, der lediglich biologisch ausgeschmückt wird. Ein vollwertig naturwissenschaftlicher Ansatz würde daerauf verzichten und daher ganz anders aussehen.

Der nächste post zur Theorie der Männlichkeit wird diesen Ansatz weiterentwickeln.

 


2 Kommentare

  1. luisman sagt:

    Englische und franzoesische Literatur unterscheidet sich m.A. i.W. dadurch, dass der englische Adel, z.T. hoch gebildet, in den Provinzen schrieb und z.T. unter Pseudonym veroeffentlichte, waehrend der franzoesische Adel, durch die extreme Zentralisierung, und geringere Bildung, kaum nennenswertes schrieb, weshalb die Literatur eher populistisch, d.h. Mittelstands-orientiert ist.

    Praegend in der europaeischen Literatur ist jedoch meist, dass man sich gegenseitig Selbstbestimmtheit attestiert und (zumindest innerhalb der Klassen) auch garantiert, auf Basis selbstbestimmter Mittel und Methoden. Diese Art des Individualismus findet man in anderen Gesellschaften kaum/weniger. Riskantes Individualverhalten, welches einen auf dem Trohn oder in der Gosse enden laesst, ist ein haeufiges Thema. Und aus allen psychologischen Studien wissen wir, dass es beim Risiken eingehen den groessten Unterschied zwischen Frauen und Maennern gibt und immer gab.

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